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An diesem Buch kommt gerade niemand vorbei: Saša Stanišićs „Herkunft“ wurde schon seit Erscheinen im Frühjahr von Kritikern und Lesern gleichermaßen gefeiert, dann wuchs die mediale Aufmerksamkeit zusätzlich durch die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2019. Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse hat der Autor den Preis nun gewonnen – und das völlig zu Recht, denn sein Roman ist ein Meisterwerk. Während andere preisgekrönte Bücher oft intellektuell hoch anspruchsvoll sind, der Lesegenuss aber gegen Null tendiert, wird man beim Lesen von „Herkunft“ in jeder Hinsicht bereichert: Eine interessante Familiengeschichte, historische Hintergründe und philosophische Ansätze treffen auf einen vollendeten Schreibstil mit fein differenzierter Sprache und einer individuellen Umsetzung.
Saša Stanišić, 1978 in Jugoslawien geboren, musste 1992 während des Balkankriegs mit seiner Familie fliehen und lebt seitdem in Deutschland. In seinem Roman erzählt der gefeierte Schriftsteller in Zeitsprüngen seine eigene Geschichte und die seiner Vorfahren. Das macht er leicht, mitreißend und immer auf eine sehr eigene Art. Das Beschriebene ist eine liebevolle Hommage an die Familie, vor allem an seine demente Großmutter. Oft trifft man dabei auf einen feinen Humor, man lacht über die Formulierungen und originellen Vergleiche – und im nächsten Moment gefriert das Lachen, wenn Stanišić in eben genau diesem Stil über Grauenhaftes und Unmenschliches berichtet. Rassenwahn, Feindseligkeiten, Mord und Flucht – all das im Damals und im Heute beschrieben – macht das Buch auch zu einem politischen Werk, gerade in Zeiten, in denen Populisten in ganz Europa wieder ihren Hass verbreiten. Bedrückend beispielsweise ist die Feststellung des Autors, dass es für seine Familie im heutigen Europa nicht mehr die Möglichkeit zur Flucht nach Deutschland gäbe. Indem er die Ausschreitungen gegen Asylbewerber und vietnamesische Gastarbeiter in Rostock oder den Erfolg der AFD in Beziehung zur eigenen Geschichte setzt, hält der Autor unserer Gesellschaft den Spiegel vor.
Sehr ungewöhnlich ist dann das Ende des Buches, denn der Leser wird es selbst gestalten. Stanišić gibt verschiedene Vorschläge zur Auswahl und je nachdem, für welchen man sich entscheidet, ändert sich Schritt für Schritt der Ausgang der Geschichte. Auf den ersten Blick ein wenig wie eine Spielerei, wird schnell deutlich, dass das der Lauf des Lebens ist: Wie man sich an einem Punkt festlegt, bestimmt, wie es weitergeht. Und hier schließt sich dann der Kreis zum Thema Herkunft. Bei uns allen wird sie durch die eigenen und die Entscheidungen der Vorfahren geprägt. Denn was ist Herkunft? Der Ort, an dem ich geboren bin, das, woran ich glaube, eine Volksgruppe, zu der ich gezählt werde oder ist sie einfach da, wo ich lebe? Persönliche Fragen, die sich auch der Leser stellen wird.
30. Oktober 2019
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